Der Standard - 15.10.2011

Es ist nicht das, was du siehst!

Die Company Crew, Jan Ritsema & Gang und Michikazu Matsune fordern beim Steirischen Herbst die Wahrnehmung heraus: mit besonderen Tourismusinfos und Neudeutungen zu Shakespeare.



Kunst, die ans Eingemachte gehen will, kann etwa versuchen, unseren Glauben an den Wirklichkeitsgehalt der Wahrnehmung zu erschüttern. Wie die belgische Company Crew, die in Graz gerade ihre performative Installation Terra Nova zeigt. Oder wie der Wiener Choreograf Michikazu Matsune, der eine Touristeninformation der anderen Art in ein ganz normal aussehendes Gassenlokal schmuggelt. Oder: Kunst entzieht Shakespeares Klassiker Was ihr wollt den ursprünglichen Inhalt und ersetzt ihn durch einen neuen, wie das der niederländische Regisseur Jan Ritsema mit Künstlerkollegen in dem Stück As You Like It, A Body Part geschafft hat.

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, manipulativ auf den Klavieren unserer Sinne zu spielen. Das weiß nicht nur die Kunst - auch Unterhaltungsindustrie, Produktwerbung und politische Propaganda machen Gebrauch davon. Jegliche Bastelei an der Wahrnehmung hat etwas Unheimliches, und die Crew des ehemaligen Comiczeichners Eric Joris nutzt diesen Grusel hingebungsvoll aus. Gruppenweise wird das Publikum von Terra Nova im Grazer Mumuth in eine Architektur aus zwei Räumen geführt, die mit reichlich Computertechnologie ausgestattet sind.

Die Besucher werden, mit Cyberbrillen und Schutzmänteln ausgestattet, auf Betten verbracht. So mutieren sie zu Patienten eines verrottet aussehenden virtuellen Klinikums, durch das sie erst gerollt werden und später auch wandern. Auf der Reise durch diese Unterwelt ereignet sich Albtraumhaftes: Die Totenmesse für eine lebende Leiche wird zum Mordszenario, Ratten gehen auf Tuchfühlung, und eine Untersuchung am Körper wird vorgetäuscht.

Damit soll das Publikum eine geteilte Wirklichkeit erleben: Es befindet sich in einem anderen Raum als in jenem, der sich seinen Augen und Ohren darbietet. Und weil die audiovisuelle Manipulation unvollständig bleibt, weiß der Körper sich weiterhin gut aufgehoben im Theater. Mit dieser Unzulänglichkeit manövriert die Crew knapp am Technikfetischismus der Medienkunst vorbei.

Wer von der Terra Nova -Maschinerie ausgespuckt wird und dann gleich bei Jan Ritsema landet, erfährt dort die Kehrseite derselben Medaille. Diese allerdings mit weniger Pathos und auf Lowtech, dafür aber mit Witz. Aber Ritsema besitzt auch intellektuelle Widerborstigkeit. In Shakespeare's As You Like It. A Body Part hat er zuerst einmal auf das Metatheater in Shakespeares Komödie zugegriffen: "Es ist ja nicht so, dass ich spiele", sagt eine Figur darin an einer Stelle. Und da Ritsema und die Seinen hier nicht naiv behaupten wollen, sie hielten den Rekurs auf das Metatheater für eine ach so neue Sache, nehmen sie es - und das ist schon gewitzt - einfach wörtlich.

Also wird auch nicht gespielt. Ritsema hat eine Gang zusammengesucht, deren Mitglieder sich in Sachen Theater, Performance und Choreografie bereits als Koryphäen der Subversion und Verwandlung bewiesen haben oder das noch beweisen wollen. Dieser Gruppe - darunter Christine De Smedt, Maria Hassabi, Mårten Spångberg und Xavier Le Roy - wurde das "As You Like It" offenbar zum Programm in der Erarbeitung eines Stücks, in dem sie mit Shakespeare definitiv macht, was sie will.

Die Aufführungen liefern das Material für einen Film: eine Methode, die zwar seit Jahren etwa von der Gruppe Superamas angewandt wird - aber eben nicht für die "Bearbeitung" eines Theaterklassikers. Alles beginnt vor einem Theatervorhang beim Einlass, hinter dem das Kommando "Action" ertönt. Die Performer haben sich davor aufgestellt, das Publikum begrüßt, und dann geht es in den Performanceraum - durch eine Schleuse, die aus einer Stadt aus Papiersäcken besteht. Über diese trampeln Performer und Publikum hinweg wie eine Godzilla-Invasion.

Und dann folgt Take auf Take. Besucher und Akteure werden beinahe ununterscheidbar. Eine Szene scheint irrwitziger als die andere. Referenzen, Assoziationen und Herleitungen vermischen sich mit Übertreibungen, Verfremdungen und Persiflagen. Hier wird der Fetisch Theater ordentlich zurückgestutzt, und das Publikum findet sich als Mitspieler in einem oft nicht ganz freiwillig heiteren Experiment wieder, dessen Ausgang - der fertige Film - erst im Dezember vorliegen wird.

Nettes Personal

Ein ähnliches Experiment für die Besucher ist auch Michikazu Matsunes Tourist Office im Festivaldistrikt: Ein Gassenlokal mit nettem Personal, das eine Sightseeingtour in der näheren Umgebung empfiehlt, ist hier. Und wer diese absolviert, nimmt Graz ganz anders wahr als der gewöhnliche Tourist. Kleine Installationen, ungewohnte Ein- und Ausblicke, eine "Kofferraumausstellung" in einer Tiefgarage und Führungen machen den Besuch zum Abenteuer. Es ist ein Abenteuer vor allem auch der eigenen Wahrnehmung, und da geht es ans "Eingemachte", das heißt an die Konserven des eigenen Wissens: Was man zu kennen glaubt, erschließt sich hier noch einmal ganz neu.

Helmut Ploebst
wukonig.com