G7 - 02.10.2011

One night at herbst

Unruhe in Graz: Der steirische herbst wirbelt im Distrikt. Wir haben eine Nachtschicht im Hotel eingelegt.



Theoretisch könnte man auch zu Bett fallen, durchschlafen, sich morgens mit Waschcreme "Tricky Ricky" duschen und im Speisesaal lasterlosen Hotelkaffee trinken. Aber: Was man da alles versäumen würde!

G7 hat eine Nacht im herbst-Hotel verbracht. Im Basislager des Festivaldistrikts zwischen Südtiroler- und Mariahilferplatz. Überdimensionale Lettern in Rot, entworfen von Maruša Sagadin, leuchten Nachteulen im "Kulturhauptstädtchen" den Weg zur Unruhe: zu HOTEL, BAR, WIRT, CAFE oder LADEN. Verorten das Maximale im Mikrokosmos Graz.

Seit acht Tagen besetzt der herbst den Distrikt und die Augenringe der Besucher sprechen Bände. Es fühlt sich an wie Lendwirbel im herbst und ein bissl wie Graz 2003. "Zweite Welten" lautet das herbst-Motto. Und die erlebt man gleich im Hotelfoyer, wohin sich viele Grazer wohl erstmals begeben.

Rechts die Rezeption, an der rund um die Uhr Dienstleistungs-stimmen fragen: "Was kann ich für Sie tun?" Daneben, parallel, eine zweite Welt: die herbst-Rezeption. Dort kann man kein Zimmer mehr ordern (bis Festivalende am 16. Oktober ausgebucht), aber sich einen Schlüssel für Nummer 113 holen und in dieses eintreten, um Wundersames zu erleben: Nach der genial gruseligen Installation "Blindsight", bei der man alleine mit Kopfhörern im dunklen Raum saß, eine Stimme hörte, sie nach einer Weile auch dachte und spürte, ging zwei Tage später im selben Raum, der anders aussah, eine Minibar-Party übers Doppelbett. Mit eigener Minibar, weil die sonst nicht existiert. Wenn Marua Sagadin zum Fußballschauen (Borussia Dortmund vs. Olympique Marseille) lädt, sind die Vorräte in den Kühlschränken vor der Pause leer. Kein Wunder, bei bis zu 46 Personen zwischen Bett und Fensterbrett. Es fühlt sich an wie Skikurs. Nur erlaubter. Gin-Fläschchen werden zu Chips weitergereicht, man redet mit Wildfremden über alles und kaum über Fußball. "Wer spielt eigentlich?", fragt jemand nach 15 Minuten. Als vor der Türe eine Frau ihrem Freund vor der Euphorie des Moderators die Party und damit auch irgendwie das herbst-Prinzip erklärt, denkt man ernsthaft darüber nach, aus seinem alten Leben aus- und in ein Hotel zu ziehen. Bei den Preisen fürs Room-Service (14 Euro für eine Flasche Weißburgunder)!

Für diese eine Nacht bleiben wir da: bei Teppichboden, dem Gang-Becken mit rosa Blümchenfliesen, Lustern, Plastikäpfeln und arrangierten "wirklich alten Maiskolben", so eine Kosterin. Im dritten Stock ist übrigens auch das Honorarkonsulat der Republik Kasachstan daheim. Früher war das Hotel Krankenhaus oder auch Thema einer Pressekonferenz von Christoph Schlingensief, der 1995 für "Hurra, Jesus! Ein Hochkampf" da abstieg. Unser Zimmer Nr. 345 trumpft heute mit einem Heizkörper in der Dusche oder zwei Betten in größtmöglichem Abstand auf.

Zum Schlafen fehlt die Zeit. Wir bleiben bis zum Zapfenstreich in den Tiefen von Anthony Saxtons herbst-Bar an stämmigen Tischen unter rosa Leuchtkugeln sitzen, wohin sich neben Gästen und Künstlern auch Herren in Hemd und Krawatte verirren. Nahtlos gehen die Welten ineinander über. Pensionisten und Partytiger. Kunst und Hotelmarketing. Die Raucher draußen, sehen den Polizeistreifen nach. Philosophieren über und mit Künstlern. Und Mr. Saxton erklärt das Gesetz der Nacht: "Um drei Uhr entscheidet sich alles." Wird das Ende gut, versöhnlich? Hat man noch Sex? "Was bis dahin nicht passiert, passiert nicht mehr." Noch bleiben 14 herbst-Nächte. Aufbleiben!

NACHTARBEIT: NINA MÜLLER, JULIA SCHAFFERHOFER
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