Kleine Zeitung - 17.06.2011
Lesehilfe für die Kehrseite
Der steirische herbst rüstet sich für die Vermessung der "Zweiten Welten". Das soll den Blick und die Blickwinkel auf unser Sein und Handeln schärfen. Und die Fragen nach Alternativen.
Es war fast wie bei Robert Lembkes heiterem Beruferaten "Was bin ich?":
Veronica Kaup-Hasler wischt sich mit Handrücken und Unterarm über die
Stirn. Die 42-Jährige ist, wissen wir, herbst-Intendantin, aber ihre
typische Handbewegung sollte zeigen: Ihr Programm wurde vor der
Präsentation am Donnerstag noch knapper fertig als sonst.
Die Erotik der letzten Sekunde war heuer mit angeheizt durch
Budgetprovisorien und Subventionskürzungen des Landes, die sich bei
einem Jahresbudget von 3,4 Millionen Euro mit einem Minus von 210.000
Euro niederschlagen. Andererseits sei man durch Sonderförderungen von
Land und Bund und durch treue und neue Sponsoren weiterhin motiviert.
Und schon gar durch die "Signalwirkung" des "Culture Programme" der EU,
die den herbst, wie berichtet, mit 300.000 Euro auf drei Jahre
unterstützt.
Denkmodelle
"Zweite Welten" lautet das Motto des heurigen Festivals. Der rote
Faden sei wieder "Lesehilfe" für gesellschaftspolitische Themen - und
deren Kehrseiten. "Wir fragen nach Parallelwelten zur scheinbaren
Realität, nach neuen Blickwinkeln, alternativen Denkmodellen", sagt
Kaup-Hasler.
Also macht man auch aus der (Budget-)Not eine Tugend und ersetzt das
bewährte Festivalzentrum durch einen Festivaldistrikt im
Mariahilferviertel, "wo wir eine kleine Stadt in der Stadt behaupten" -
mit eigenen Läden und Wirten, Kino und Albtraum-Therapiezentrum,
Klanginstallationen in Hotelzimmern oder einem schrägen Tourist Office.
Die zentrale herbst-Schau, verwirklicht mit dem Zagreber
Künstlerinnenkollektiv WHW, wird zwischen Wunsch- und
Wirklichkeitswelten pendeln, ebenso die bewährten Ausstellungspartner
wie die Minoriten, die in "Irrealigious!" mit Religion in der Kunst "den
Fokus auf kaum zu Glaubendes" richten wollen.
Eröffnet wird das Festival mit "Cesena", einem Projekt der großen
belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker, das schon im Juli im
Ehrenhof des Papstpalastes von Avignon zu bestaunen sein wird: Sänger
tanzen und Tänzer singen zu Musik des 14. Jahrhunderts von Machaut,
Dufay & Co, um neue Welten des Sehens und Hörens aufzutun.
Unter den weiteren Bühnenereignissen sticht die spanische Produktion
"Gólgota Picnic" von Rodrigo Garcia hervor. "Ein drastisches letztes
Abendmahl auf einem Teppich von Hamburgern. Das bizarre Schlachtfeld des
Konsums wird wohl etwas von dem Skandal liefern, nach dem der herbst
von Nostalgikern immer wieder gefragt wird", sagt Kaup-Hasler
schmunzelnd.
Michael Tschida
wukonig.com