fm4 online - 25.09.2011

Schön unheimlich

Zweite Welten können unheimlich schön sein. Drei dringende Empfehlungen beim steirischen herbst.



Alles war erleuchtet. Die Schriftzüge an den Häusern und die Gesichter. Der steirische herbst treibt dem geneigten Publikum Rosarot auf die Wangen. Winken im Gewühl und für die außerordentlich vielen Videoarbeiten, die es in Graz nun zu sehen gilt, braucht man mehr als ein Wochenende. Gut möglich, dass manche nicht aus dem Festivaldistrikt hinauskamen am gestrigen ersten herbst-Tag.

Der steirische herbst stellt für drei Festivalwochen eine Behauptung in den Raum, die sich darüberhinaus so schnell nicht einlösen wird. Maruša Sagadin bläst die Grazer Mariahilferstraße für den Abschnitt zwischen Kunsthaus und Mariahilferplatz auf und markiert mit überdimensionalen Leuchtlettern den Festivaldistrikt. Als Maruša Sagadin vor wenigen Tagen die Montage von der Höhe eines Krans aus beobachtete, riefen Passanten "Titanic!". Wie zu einem Blow-Up gemacht, grenzen jetzt in Leuchtschriften "No Go", "End" und "Off" sowie "Only" und "Silence" diese gern vom herbst-Team als gated community benannte Zone ein. Der herbst verlangt Größeres, installiert Urbanität im Grätzel und strebt nach etwas, das Graz nicht hat und nicht so bald haben wird, wie es Dramaturgin Kira Kirsch ausdrückt:
Entgegengesetzt dem dörflichen Charakter, der die niederen Häuser rund um die Mariahilferkirche zum "Mohrenwirt", der seit 425 Jahren so heißt, und weiter zum Haus der Architektur durchaus charmant prägt.

Maruša Sagadin hat lange Tischbänder aus Beton und Eternit entworfen, die entlang der Häuserfassaden aufgestellt sind. Stellenweise tragen die Teile abstrakte Bilder und den Hinweis auf eine "Hotline für Graffiti Removal". Als hätten Zensuren stattgefunden, kann man einige Zeichnungen nur erahnen. Wer "Sorry" auf das eine Tischband gesprüht hat, weiß man nicht. "Manchmal ist nicht klar, wer der letzte Handelnde war", sagt die Künstlerin Sagadin.

Die Screaming Females waren dann am 20-Jahre-Nevermind-Tag die Idealbesetzung für das erste Club-Konzert beim herbst. Mit kleinen Fingern spielt es sich eindeutig besser Gitarre.

Doch das war gestern. Hier kommen drei Empfehlungen für heute und die kommenden Tage. Mit Ausrufezeichen.
Dieser Grusel

Einchecken im Zimmer 113 beim steirischen herbst. Spannende Ein- und Ausblicke garantiert.

Ankommen und am Besten gleich einchecken: Im Hotel im Festivaldistrikt sind zwar alle Zimmer restlos ausgebucht, doch den Schlüssel für 113 darf man sich an der herbst-Rezeption holen. "Im ersten Stock, gleich das erste Zimmer zur Linken", weist die junge Frau im Foyer den Weg. Mehr verrät sie nicht. Der Finne Hans Rosenström hat eine "textbasierte Klanginstallation für je einen Betrachter" eingerichtet. Das klingt ja harmlos, doch von Wohlfühlen kann ich hier nicht sprechen - und das in den besten aller Sinne! Im Zimmer 113 baumelt ein Kopfhörerset von der Decke. Die schnappt man sich, setzt sich an den Schreibtisch, das Bett im Rücken. Die Beleuchtung fährt zurück. Es knarrt. Hätte ich abgesperrt, denke ich, doch jetzt kann ich nicht mehr aufstehen. Da war doch auch ein Bad seitlich, und alleine bin ich hier bestimmt nicht mehr lange... mehr wäre spoilern. Fünf Minuten im Zimmer 113 verunsichern. Beeindruckend und noch zu erleben.
Dieser Mann verarbeitet deinen Albtraum

Betritt man den "Laden" im Festivaldistrikt, wird es anders um einen. Die rumänische Künstlergruppe Apparatus 22 hat das Geschäft eröffnet, das in den kommenden Wochen den Händler und das Sortiment wechseln wird.
Archaisch hängen Federn und Fell zu Anhängern drapiert an den Wänden. Das Personal in grauen Overalls spricht nur mit sich, vertieft in sein Handwerk, das offensichtlich alle Konzentration fordert. Hier werden Albträume der BesucherInnen entgegengenommen und zu Amuletten verarbeitet. "Morpheus Buyback" heißt das Projekt, das bizarr anmutet und mich daran erinnert, dass ich "New York AND Axt" googeln muss. Der Autor Jörg Albrecht hat mir bei der herbst-Eröffnung erzählt, dass Menschen in New York kurzfristig kleine Äxte mit sich trugen. Man stelle sich vor, man sitzt in der U-Bahn Passanten mit Äxten gegenüber. Unhandliches Modeaccessoire? Eine Expansion von Apparatur 22? Eventuell weiß Christian Lehner mehr.
Weil wir uns hier in Graz gerade zutiefst urban gebärden: zum Stoffbeutel will nicht auch noch eine Axt geschultert werden.
Diese Melancholie entzückt

Alles hat einen Anfang. Und ein Ende. An dieses Naturgesetz erinnert zu Beginn von "Potato Country" eine Frau in bestickter Trachtenbluse, mit bravem Kittel und traditioneller skandinavischer Kopfbedeckung. "Some things are simpler than they may appear", hakt sich als Satz fest, und die Schönheit dieser Behauptung führt das Publikum für eine knappe Stunde in einen Trailer Park. Oder an einen anderen imaginären Ort.

Die Choreografin, Regisseurin und Filmemacherin Gunilla Heilborn schafft ein entzückendes Stück Tanz, das mit Musik und Songs lose melancholische Geschichten erzählt und doch vielfach heitere Momente hat. Mit synchronen Bewegungen nähern sich TänzerInnen an, umarmen sich in einem ruhigen Moment einzig mit ihren Köpfen und Hälsen. Das Kollektiv formiert sich zu Fragen nach deiner Meinung zu Frauenrechten und Chinas Entwicklung. Und man lacht über die Absurdität der Dimension, in der man sich alltäglich bewegt. Für alle, die Tanztheater bislang konsequent ignoriert haben: Hingehen!

Maria Motter
wukonig.com