www.gat.st - 23.10.2011

Die Zweite Welt im steirischen herbst



Vorneweg, zum Ende, das übliche Ritual, also die „herbst“-Bilanz: Steigerung der Auslastung mit 40.000 Besuchern auf 92,88 %, dazu über 600 Künstler, Theoretiker und sonstige Teilnehmer aus insgesamt 52 Nationen. Die Cash-Einnahmen im Vergleich zum Vorjahr um 50 % gestiegen, die Reduzierung des Budgets um 250.000 Euro ausgeglichen durch das bisher stärkste Sponsoring. Dazu war der Herbst ungewöhnlich sonnig, was für einen schon fast störenden Zulauf im Festivalbezirk Mariahilf sorgte.

Und dass der Chefdramaturg Florian Malzacher 2013 die Leitung des Theaterfestivals „Impulse“ in Nordrhein-Westfalen übernimmt, ist auch ein Beweis für die Qualität des „herbst“, andererseits auch ein Verlust für ihn.

Ein Motto gleicht einem Sinn-Container, in den sich so ziemlich jedes Programm transportieren lässt. Das Motto des diesjährigen „herbst“ war da in seiner klassischen Unbestimmtheit keine Ausnahme: „Zweite Welt“, Grenze zwischen Realen und Imaginärem, Paradigmenwechsel …
Und wie war er nun, der „herbst“? Sieht man die Theater - bzw. Performanceabende als Kernkompetenz des Festivals, ist mit ihnen das Motto „Zweite Welt“ ziemlich schlüssig interpretiert worden.

Wörtlich nimmt Eszter Salamon das Motto in ihren „Tales Of The Bodiless“, indem sie vier radikale Alternativen zu der von menschlicher Spezies erlebten, also konstruierten Welt anbietet: Erst das „Moor“ aus einer überzeitlich/zeitlosen Perspektive, dann aus der Sicht von Hunden, die als beste Freunde des Menschen übrig geblieben sind; schließlich gibt es die Welt der „Substituierten“, in der sexuelle Unterschiede nur mehr „körperlos“ bzw. mit Körper („körpervoll“) definiert werden und zuletzt „Punkte“: Ergebnis eines nur mehr „bakteriellen Sex“ der „Substituierten“. Nicht mehr die Reproduktion der Spezies ist Ergebnis, sondern deren Partikelnachwuchs, Bakterien, Myriaden von Mikroorganismen. Das klingt abgehoben, aber es fällt einem dazu auch „grey goo“ ein, die Horrorvision eines weltfressenden Schleims aus wild gewordenen Nanopartikeln. Salomons Inszenierung arbeitete erst mit völliger Dunkelheit, verschärft durch ohrenbetäubende Toncluster, dann mit pompösen Licht- und Nebelspielen – wie immer im Mumuth, dem postmodernen Tempel für Hightech-Pompöses. Eszter Salamons überzeitliche, eben nicht anthropozentrische Szenarien bestechen aber auch durch fabelhafte, absurde Dialoge, geschrieben für ihre „Hunde“.

Die spannendste Show bot der Amerikaner Miguel Gutierrez mit „Heavens what have I done“. Schon der Titel signalisiert lustvolles Entsetzen über das Vorführen persönlichster Probleme. Schlampig-dicklich wie der Dokumentarist Michael Moore saust Gutierrez mit einem Rucksack durch die Zuseherreihen, die er erst einmal dazu bringt, sich ganz woanders hinzusetzen. Unablässig über sich und seine Kunst, also sein Leben redend, leert er seinen Rucksack, verstreut Bücher über den Boden und baut die Bühnentechnik währenddessen selber auf. Sich bis auf die Unterhose entkleidend, um das absurde Paradiesvogelkostüm seines französischen Freundes plus einer Marie-Antoinette-Perücke anzulegen, fängt der Tänzer, Eventkünstler, Kommunikator und Choreograf frei nach Heinrich Heine die ganze Welt im Mikrokosmos seines Lebens ein. „Denn jeder Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm lebt und mit ihm zugrunde geht“. In seiner nur scheinbar bescheidenen Aufführung verbindet Gutierrez das Schrille mit dem Sanften, das Noble mit dem Kitsch, das Hochartistische mit dem Alltäglichen. Nach einer wahnsinnigen Tanzeinlage singt er im Duett mit Cäcilia Bartoli zu deren CD mit Vivaldi-Liedern. Selten auf so hohem Niveau über eine gleichzeitig selbstreflexiv-hektische und schmerzerfüllte Confessio gelacht …

Am weitesten treibt Jan Ritsema mit „Shakespeare`s As You Like It, A Body Part“ die dramaturgische Auflösung. Ihm und seiner Truppe geht es um das Prozesshafte ihrer Arbeit, wobei sie sich organisatorisch bzw. hierarchisch so wenig wie möglich fixieren. Die Spieler präsentieren ihre banalen, pointenlosen, bestenfalls absurden Parts – etwa simple Entspannungsübungen, eine (nicht einmal parodierte) Talkshow, Fragen, ob man lieber von Gaddafi oder Sarkozy aufs Kreuz gelegt werden würde, oder den Vortrag eines Erschossenen. Programmatisch sagt Ritsema: „I am not interested in theatre that looks like theater.” Das postmoderne "Anything goes" wird aber ohne die übliche, postmoderne Virtuosität vorgeführt. Die Zuseher, nur gelegentlich ins Geschehen mit einbezogen, werden anfangs vom heftigen Wunsch erfüllt, zu gehen. Aber schließlich entwickelt diese gleichgültige Banalität doch ihren Sog. Sie werden zu Statisten in einer Dokumentation, die aus dem – mit einer Handvoll Amateurkameras zu locker ausgeführten Drehkommandos – gedrehten Material entstehen soll. Wir filmen und indem wir Bilder von uns machen, existieren wir; das banale Medium Video muss die Banalität legitimieren. Die Theaterarbeit erinnert mit ihrer Neugier auf das Prozesshafte, mit dem Verzicht auf Effekte, mit der zur „Kunst“ erklärten Grundlagenforschung an Architekten vor der Postmoderne, die den Architekturbegriff ähnlich unbefangen überschritten. Buckminster Fuller etwa, oder Yona Friedman.

Die schwedische Choreografin Gunilla Heilborn übernimmt für „Potato Country“ mit dem Aufritt einer Moderatorin ebenfalls triviale FS-Formate. Dabei überlässt sie aber, anders als Jan Ritsema, nichts dem Zufall. Es werden Fragen gestellt (Was sind die unglücklichsten Zeiten? Was ist Happiness? Wie steht es um die Frauenrechte in China?), grundsätzliche und komische, manchmal fällt beides zusammen. Sieben Tänzer singen, spielen Akkordeon oder erzählen Tagesabläufe. Technisch perfekt verzichten auch sie darauf, diese Perfektion vorzuführen und stellen sich im Gegenteil häufig „ungeschickt“ an. Auch ihre Kostüme sind von kalkulierter Bescheidenheit. Die elektronische Musik von Kim Hiorthoy mit ihrem Understatement verleiht dem Abend mit seinen sparsamen Leitmotiven – das einfache Leben im „Potato Country“ liegt vielleicht in Irland – seinen Charme. Eine sehr gekonnte, kunstsinnige Aufführung auf der Höhe der Zeit.

„Welche Welt?“ Die „Jungen“ aus dem „Stall“ von UniT, Jörg Albrecht, Gerhild Steinbuch und Johannes Schrettle stellten diese schlaue Frage. Und vor allem Schrettles Antwort mit „Wie wir es tun sollten“ kommt auf den Punkt. Er spielt mit seinem Text die Ratschläge und Handlungsanweisungen der „Ersten Welt“ frech zurück. Wobei seine Truppe, die „zweite liga für kunst und kultur“, hauptsächlich bestehend aus einer Blondine mit Stoneface, einem toughen, durchtrainierten Schauspieler und einer genialen Slapstickerin, dem Publikum den normalen Widersinn mit böser Komik zwischen Rene Char und Karl Valentin entgegenhalten.
„Wie wir es tun sollten“ war nicht nur die beste der „kleinen“ Arbeiten, sie lässt auch die Platzhirschen vom Theater am Bahnhof zumindest mit ihrer aktuellen „herbst“-Produktion „alt aussehen“. Deren „Time to get ready for love“ leidet an Unentschiedenheit: Geht es darum, lustvoll alte (unhörbare) Schlager nachzuerleben – die Texte werden simultan von einer mp3-Einspielung nachgesprochen – oder um die Fernsteuerung von Künstlern bzw. Konsumenten? Auch Gastregisseur Robin Arthur inszeniert das Vorstellen der Songs als reduziertes Verfahren. Das hat manchmal Charme, nur zieht sich der Abend ungebührlich in die Länge. Lorenz Kabas finalisiert ihn schön sentimental mit „Ev´ry Time We Say Goodbye“, aber das war doch nicht die Idee. Oder?

Rodrigo Garcia wirkte mit seinem Fast-Skandal, dem bildergewaltigen „Golgota Picnic“, etwas out of time. Der hochprozentige, an Lautréamonts „Gesänge des Maldoror“ (1648) erinnernde Text, Nacktheit auf der Bühne, Ausspucken von Essensbrei, Zitate auf die Wiener Aktionisten oder das Turiner Leichentuch, immer begleitet von simultanen Live-Video-Projektionen, ergeben eine etwas abgestandene Avantgarde. Die Qualität des Abends bestand in seinem überwältigenden Reichtum der Bilder, von denen einige sehr frisch wirkten: Wenn z. B. ein am Boden Liegender mit fleischartigen Substanzen bepflastert wird und dabei, die Zigarette im Mund, ungerührt weiterpafft; oder wenn die den Bodenbelag bildenden Brötchen in hohem Bogen von den Füßen der Laufenden wegstieben.

Die aufregendsten 20 Minuten des „herbst“ boten "Les spectateurs" von Lotte van den Berg in der List-Halle. Ganz oben auf der Tribüne, im Rücken der Zuseher, psalmodiert, singt, heult eine schwarze Sängerin, während unten im Halbkreis aufgestellte Gebläse mächtig in einen Haufen Plastik hineinblasen. Die wirbelnden Plastikfetzen entpuppen sich als verzerrte, menschliche Figuren, die bis an die Decke hochkreiseln: Dschinns, Gespenster des Kolonialismus, Seelen in Panik, was weiß ich. Danach, während im Hintergrund das Bestattungsritual läuft, wieder erstarrte Schauspieler, eine onomatopoetische Sprechperformance, diesmal einer Weißen, und schließlich deren freundliche Aufforderung: „Wir wollen mit euch etwas trinken.“ Die Mischung aus Animismus und Hightech mutiert zu einer Art politischen Kommunion. Immerhin, der Rotwein ist von Winkler-Hermaden. Und natürlich verzichtete auch diese leicht gravitätische Aufführung auf jede „Illusion“.

„Zwei Welten“ – Motto-Mission accomplished. Die Inszenierungen waren geprägt von der Durchlässigkeit zwischen Bühnenillusion und banaler Realität, von dramaturgischer Spannung und gleichzeitig Nonchalance gegenüber Effekten. Das Herstellen der Bühne als Teil der Aufführung zählt ebenso dazu wie das Gleichsetzen von der Rolle des Schauspielers mit seiner Person. Und ähnlich unbefangen wird manchmal auch der Unterschied zwischen Zusehern und Akteuren ignoriert.

Und die herbst-Eröffnung „Cesena“ von Anne Teresa De Keersmaeker? Wunderbarer Gesang von Björn Schmelzers Vokal-Esemble graindelavoix. Nur ist die List-Halle nicht der Palais des Papes in Avignon, und Lichtspiele in der Schuhschachtel sind kein Sonnenaufgang in der Provence. Den hätte allenfalls Lichtkünstler Olafur Eliasson geschafft …

WILHELM HENGSTLER (* 1944 in Graz)
Jusstudium und Promotion 1969, lebt in Judendorf bei Graz.
Macht Filme (Fegefeuer, nach dem Roman von Jack Unterweger, 1988, Tief oben, 1995, sowie mehrere Dokumentationen) und schreibt; erste Veröffentlichung in den ›manuskripten‹ 1966; Literaturzeitschriften und Anthologien; Film- und Theaterkritiken; 1987 erschien Die letzte Premiere. Geschichten , 2003 die Novelle fare.
Wilhelm Hengstler
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