Wiener Zeitung - 22.09.2011

Parallelsysteme beim steirischen herbst

Das Leitmotiv für den diesjährigen steirischen herbst "Zweite Welten" fragt nach kulturellen, sozialen sowie politischen und psychologischen Parallelwelten.



Mancherorts sind die Grenzen zwischen dem Realen und dem Imaginären nicht gerade eindeutig. Das, was sein könnte, ist in vielen Kulturen ebenso konkrete Kraft wie das, was ist. Dann sind die Geister der Verstorbenen und des Vergangenen keine Metapher für Erinnerung, sondern wirkmächtige Gegenwart. Eine zweite Welt, die gar nicht parallel ist, sondern die erst großflächig überlappt. "Zweite Welten" das Leitmotiv für den diesjährigen steirischen herbst (23. September bis 16. Oktober) lässt einen die Dinge anders sehen. Das Klare verschwimmt, das Verschwommene wird klar, und es sind andere Strukturen, andere Schichten so wie andere Wirklichkeiten zu erkennen.

    Musik aus dem 14. Jahrhundert

Eröffnet wird der steirische herbst mit der jüngsten Arbeit einer der wichtigsten Choreografinnen unserer Zeit: Anne Teresa De Keersmaeker. Sie vermischt in "Cesena" die getrennten Welten von Musikern und Tänzern mit ihrer Kompanie Rosas und dem Vokalensemble Graindelavoix unter der Leitung von Björn Schmelzer, indem sie Tänzer singen und Musiker tanzen lässt. Und das alles zu einer Musik, die aus einer zeitlich weit entfernten Welt stammt: der Ars subtilior aus dem ausgehenden 14. Jahrhundert.

Auch die diesjährige herbst-Ausstellung "Zweite Welt", konzipiert vom kroatischen Kuratorinnenkollektiv What, How & for Whom (WHW), nutzt das Potenzial möglicher und unmöglicher zweiter Welten als Projektionsfläche für imaginäre und politische Perspektivenwechsel.

Um eine Parallelwelt dreht sich ebenso die herbst-Konferenz "Der Patient". Theoretiker und Praktiker gehen der Frage nach, welche Rolle Krankheit als permanent präsente zweite Welt inmitten der ersten heute spielt, als Realität, als Metapher, als Entwicklungslinie und als Lebens- und Möglichkeitsform.

    Städtchen in der Stadt

Auch das Festivalzentrum, das von der österreichisch-slowenischen Künstlerin Marusa Sagadin entworfen wurde, ist eine eigene Welt in der Welt. Als Festivaldistrikt erstreckt es sich zwischen dem Grazer Südtiroler Platz und dem Mariahilfer Platz, eine gated community, die sich bewusst und spielerisch mit der Diskrepanz zwischen Einladung und Ausschluss auseinandersetzt. Für vier Wochen entsteht ein kosmopolitisches Städtchen in der Stadt: Tische und Bänke auf der Straße, eine Kneipe und viele Lokale herum, wie Kino, Hotel oder Bar. Das Spektrum reicht von experimenteller Elektronik bis zur Ausstellung, von der Party bis zur Theorie.

   Erstmals in Graz kann man heuer im steirischen herbst in die drastisch-physische Theaterwelt des argentinisch-spanischen Regisseurs Rodrigo Garcia eintauchen. Sein "Gólgota Picnic" ist eine wütende Abrechnung mit der westlichen Zivilisation. (gral)

gral
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