falter - 19.10.2011

Irreale Welten, real betrachtet

Der steirische herbst hat in den letzten Wochen das kulturelle Leben in Graz bestimmt. Eine Bilanz.



Vorige Woche am Sonntag ging der steirische herbst mit einem letzten Brunch zu Ende. Das Festival neuer Kunst präsentierte sich dieses Jahr unter dem Motto "Zweite Welten", in rund drei Wochen kamen über 40.000 Besucher. Intendantin Veronica Kaup-Hasler freute sich über eine Auslastung von fast 93 Prozent. Aber hat das szenische Programm für Überraschungen gesorgt? Konnte der Festivaldistrikt die Erwartungen erfüllen? Oder das Ausstellungsprogramm unser Weltbild erschüttern? Das erfahren Sie im herbst-Rückblick.

   Keine Angst vor Unterhaltung

Auch heuer war das szenische Programm des steirischen herbst losgelöst von herkömmlichen Formen der dramatischen Inszenierung oder tänzerischen Aktion. So gesehen blieben die Überraschungen im Rahmen - abgesehen vielleicht von der theatralischen Bewusstseinserweiterung in "Terra Nova" (CREW).

Als Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Theaters präsentierte sich schon die Eröffnungsproduktion "Cesena", allerdings nur, wenn man die Rolle des Publikums bedenkt, dessen Eröffnungserwartungen gründlich hintertrieben wurden. Die lange, leise und erst auf den zweiten Blick innovative Arbeit von Anne Teresa De Keersmaeker und Björn Schmelzer verstörte in diesem Rahmen weit mehr als die programmierte Provokation eines "Gólgota Picnic". Was dort von Rodrigo García als Radikalregietheaterversuch losgeschickt wurde, landete als Retro-Aktionismus, der kaum ein Skandalzitat aus den vergangenen Jahrzehnten ausließ - bis Pianist Marino Formenti mit einer Stunde Haydn tatsächlich eine Art Zumutung servierte. Darf so viel unspektakuläre Schönheit sein?

Ja natürlich, sagte der herbst, dessen angenehm entspanntes Verhältnis zu den Distinktionsmechanismen neuer Kunst auch bei Gunilla Heilborns "Potato Country", "Time to get ready for love" (Theater im Bahnhof) oder Miguel Gutierrez‚ "Heavens What Have I Done" zutage trat. Es waren Abende, die einfach sympathisches wie originelles Entertainment boten. Natürlich mit brüchigem Wohlfühlfaktor. Aber eben mit. Den konzeptionellen Gegenentwurf dazu boten Eszter Salamons "Tales of the Bodiless", Lotte van den Bergs "Les spectateurs" oder das Agora-Projekt "Shakespeare‚s As You Like It, a Body Part". Dramatische Reflexion wurde da zuerst einmal als Verweigerung erlebbar gemacht. Wobei die gebotenen Alternativen zur theatralischen Aktion nicht immer überzeugen konnten.

Jörg Albrecht, Johannes Schrettle und Gerhild Steinbuch, die drei Autoren mit Graz-Bezug, passten alleine wegen der Arbeitsweise ins Programm - die herkömmliche Chronologie und Hierarchie bei der Erstellung und Umsetzung dramatischer Texte sollte aufgebrochen werden. Sehr verschieden die Ergebnisse: fragmentarisch und fragil bei Steinbuch, intelligent unterhaltsam bei Schrettle, manieristisch-eklektisch, aber auch voller Selbstironie bei Albrecht.

   Mittendrin statt nur dabei

Publikumsbeteiligung halten ja manche für das Letzte. In diese Parallelwelt will man sich für gewöhnlich nicht begeben. Doch der herbst trickste einen aus. Denn dass vieles zum Mitmachen anregte, erschloss sich einem erst, als man schon mittendrin war. Der Festivaldistrikt zwischen Kunsthaus und Mariahilferplatz war Schauplatz und Kulisse für Inszenierungen, die sich überwiegend im Verborgenen abspielten. Abgesehen von den täglichen Aufwartungen der Polizeistreife vor der herbstbar.

Kunstvermittlung gelang nebenbei: Nicht nur professionelle Festivalbesucher, auch zufällige Zaungäste wie Kärntner Erstsemestrige sahen sich im Hotel Mariahilf um. Und zogen nach einem Besuch im "Zimmer 113", einem Hotelzimmer als Performanceort, entzückt heimwärts. Besonders vergnüglich war es dort mit der US-Performancekünstlerin Ann Liv Young. Bei den "Minibar-Partys" fungierte auch der intime Bereich eines Hotelzimmers als Bühne, auf dem Doppelbett neben Autor Jörg Albrecht traute sich wohl deshalb keiner Platz zu nehmen, die Besucher hielten Respektabstand.

Der herbst setzte im Distrikt auf ein Dutzend Attraktionen, die Enttäuschung bei jenen hinterließen, die draußen bleiben mussten - die Eintrittskarten waren schnell vergeben. Das bekam gerade Ann Liv Young zu spüren. Bekannt für exzessiven Körpereinsatz, lud sie in "Sherry‚s Room" zur halbstündigen Einzeltherapie. Nach 58 (!) performativen Sitzungen ging Young zu Gruppentherapien über. Zu viele wollten ihre Dienste in Anspruch nehmen. Da wäre Youngs Ermunterung im Vorfeld gar nicht nötig gewesen: "Don‚t be scared!" Fürchten ist etwas Wunderbares, stellten auch jene fest, die sich in Hans Rosenströms herausragender Toninstallation "Blindsight" gruseln durften. So viel Interaktion im herbst gab es schon lange nicht mehr.

Nach außen hin blieb es bis auf das Wochenende relativ ruhig im Festivaldistrikt. Passanten wunderten sich über das rumänische Künstlerkollektiv Apparatus 22, das im herbst-"Laden" archaische Amulette fertigte. Das Vertraute zog mehr: In Michikazu Matsunes "Tourist Office" gingen am Ende sogar die Inlandsbriefmarken aus. Mehrere hundert Besucher wollten unbedingt Postkarten mit Bildern von Heinz Fischer oder vom Kontrollraum von Fukushima verschicken.

   Besonders nahe dran

Man brauchte kein Genie sein, um zu sehen, dass die Ausstellungen des steirischen herbst besonders nahe am Leitmotiv "Zweite Welten" waren. Dafür gab es Gründe: Kuratierte Formate lassen sich prinzipiell leichter verbiegen, das Motto war offen genug, um facettenreiche Anschlussmöglichkeiten zu bieten. Und traf dieses Jahr obendrein ein Generalthema der bildenden Kunst: Die arbeitet ja seit mehr als 100 Jahren an der Befragung von Weltverständnis und Wahrnehmung.

In ihren Herangehensweisen sind sich die beteiligten Ausstellungsorte selbst treu geblieben. Der Kunstverein Medienturm führte seine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen medialer Kommunikation weiter, kam dem unterschwellig Unheimlichen "Zweiter Welten" mit Blick auf geisterhafte Abwesenheiten nach. Camera Austria setzte ihre Reihe zum Thema gesellschaftliche Gemeinschaft fort, stellte einmal mehr das fotografische Bild und die Frage, was es wie dazu aussagen kann, auf den Prüfstand. Das Kulturzentrum bei den Minoriten untersuchte Religionen als Parallelwelten der Kunst. Nur der Kunstverein <rotor> drehte seinen Blick auf die Marginalisierten unserer Gesellschaft um und nahm in der Ausstellung "abgehoben" stattdessen die Mächtigen ins Visier, was auch nicht weniger unheimliche Arbeiten zeitigte.

Hinter die Erwartungen fiel die herbst-Ausstellung zurück, was auch schon Tradition hat. Das Kuratorenkollektiv What, How & for Whom (WHW) war mit einer weit ausholenden Schau angetreten, die gegenwärtige geopolitische Situation und unsere Ideen von Fortschritt und Wachstum infrage zu stellen. Ob solche kulturpessimistischen Rundumschläge inzwischen nicht auch schon etwas fade werden, ob sich aus ihnen wirklich neue Perspektiven ergeben, sei dahingestellt. Jedenfalls funktionierte die Bespielung der Galerie Zimmermann Kratochwill nur partiell gut. Etwa im "Monument to the Memory of the Idea of the Internationale" von Nemanja Cvijanovic, das die lächerlich instrumentierte (und instrumentalisierte?) "Internationale" nicht nur durch mehrere Stationen über Lautsprecher verstärkte, sondern auch mit den Hintergrundgeräuschen der Ausstellung mischte. Sonst zog die Ausstellung aus den Potenzialen, welche gerade die verwinkelten Kellerräume der Galerie mit sich bringen, kaum Gewinn.


Hermann Götz, Maria Motter, Ulrich Tragatschnig
wukonig.com