Salzburger Nachrichten - 10.10.2011

Gehirnschlagabende in der Nudistenstadt

Theaterprojekt "Welche Welt?" im "steirischen herbst": Uraufführungen von Schrettle, Steinbuch und Albrecht



Was wir nicht alles tun sollten! Vietnam- oder Gehirnschlagabende veranstalten, mit den Großeltern über die Zukunft sprechen, beim Sex endlich einmal loslassen können oder Graz zur ersten offiziellen Nudistenstadt erklären. Das und noch viel mehr erklären drei Akteure, die vor einer Wand mit Bankomat und Überwachungskamera stehen und sich selbst und dem Publikum gute Ratschläge erteilen.

"wie wir es tun sollten" lautet der Titel des neuen Stücks von Johannes Schrettle und der "Zweiten Liga für Kunst und Kultur": Lebenstipps für eine bessere Welt, dargeboten mit viel Off-Theater-Charme, Witz und Selbstironie. Der 31-jährige Schrettle ist einer von drei Jungautoren, die vom "steirischen herbst" für das Text- und Theaterprojekt "Welche Welt?" eingeladen wurden.Theaterwelt in Auflösung In "wie wir es tun sollten" wird der Text durch Körperarbeit und Musik (Thomas Rottleuthner) ergänzt. Der Autor tritt zurück, eine umfassende, im Kollektiv erarbeitete Materialsammlung wird in Teamwork umgesetzt. Als Reader für das Nachdenken über die Sinnhaftigkeit von Regelwerken und Institutionen dient eine Publikation, die unter den Sitzen festgeklemmt ist. Dieses als "Art Bibel" konzipierte Büchlein wird von den Darstellern im Stück aktiviert: "Wir lesen jetzt gemeinsam still die Seite 60 im Buch." Die heile Welt gerät ins Wanken, die Schauspieler (Barbara Kramer, Christina Lederhaas, Klaus Meßer) auch, sie stolpern, verletzen sich selbst. Auch das Bühnenbild wird dekonstruiert, die Theaterwelt ist in Auflösung begriffen: eine stimmige Arbeit einer der spannendsten, aktivsten und eigenständigsten heimischen Theatergruppen.

Gerhild Steinbuch, 28 Jahre alt, konzentriert sich in ihrem, von der Regisseurin Julie Pfleiderer umgesetzten Projekt auf einen Dialog aus Audiowalk und Performance. In "Am Schönsten ist das, was bereits verschwunden ist" wird das Publikum an fünf verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Routen mit MP3-Playern und Bildpostkarten zur räumlichen Orientierung losgeschickt. Quer durch den Stadtpark, hinein in die Tiefgarage und wieder heraus. Zu hören sind Gedanken über die Stadt Graz, über die Identifikation mit einem "Zuhause", über törichte Provinzfacetten und private Befindlichkeiten.

Bisweilen erschließen sich über das Gehörte, Gesehene und Erlebte schöne neue Zusammenhänge. Im hässlichen Heimatsaal schließlich kehren einige Sequenzen aus der Hörtour wieder, die zwingende Notwendigkeit einer Showprobe-Performance (Shila Anaraki, Sebastian Straub) mit Spiegelkabinett-Tricks bleibt aber fraglich.Scheitern ist inbegriffen Das Finale der jungen Theatermacher bestritt der 30-jährige Jörg Albrecht mit dem Team "copy & waste". Was den reizvollen Titel "Die blauen Augen von Terence Hill" trägt, entpuppt sich schon nach wenigen Minuten als ziemlich berechnende und deshalb schale Theaterübung: Wille zur grellen Originalität, kombiniert mit sozialkritischem Unterboden durch den Einbau von Schlagworten wie Hartz 4 oder Personen wie Thilo Sarrazin. Wohlbekannte Theaterkunstsprache verärgert, das rasante Ideenfeuerwerk von Regisseur Steffen Klewar verpufft.

Was bleibt? Mitleid für das Bühnenquartett und der Befund, dass Experimente auch scheitern können.


MARTIN BEHR
wukonig.com