Der Standard - 27.09.2011

Auch Fiktion ist Option: "Zweite Welt"

Dass es keinen anderen Ausweg gibt, davon will das vierköpfige Kuratorenkollektiv WHW aus Zagreb nichts wissen: Für den Steirischen Herbst entwickelte es eine Ausstellung, die andere Szenarien der Welt entwirft.



Es ist wie eine Rache auf Raten: Von 1860 bis 1861 leiteteten Robert O. Burke und William J. Wills eine der größten Expeditionen ins australische Hinterland und kehrten niemals zurück. Sie hatten Ngardu-Samen gegessen, die man, wie die Aborigines den beiden zeigten, zum Brotbacken verwenden konnte. Auf das für den Verzehr unentbehrliche Rösten der Samen vergaßen sie allerdings. Ein Enzym störte den Stoffwechsel derart, dass sie trotz stetiger Nahrungsaufnahme den Hungertod starben.

In Zweite Welt, der Hauptausstellung des Steirischen Herbstes, erzählt der australische Künstler Tom Nicholson diese Geschichte, in der er Burkes Verachtung für die Aborigines-Kultur betont. Man kommt nicht umhin, ihr Ende als gerechte Strafe der Ignoranz zu lesen; doch ging es im Projekt nicht nur um die Dekonstruktion kolonialer Helden. Vielmehr repräsentiert die Ngardu-Pflanze einen schicksalhaften Wendepunkt zwischen Hunger und Nahrung; zwischen kolonialen Herren und den Aborigines: Was wäre, wenn das Potenzial des Augenblicks genutzt statt vergeudet worden wäre?

   Zeit des Umbruchs

Diese Wendepunkte und Potenziale von Geschichte und Zukunft thematisiert Zweite Welt, kuratiert vom Zagreber Kuratorenkollektiv WHW ("What, How and for Whom"). Das Frauenquartett verantwortete u. a. 2009 die Istanbul-Biennale, 2011 den kroatischen Beitrag zur Biennale Venedig. Getragen vom Gefühl, unmittelbar vor entscheidenden Umbrüchen in Ökologie, Ökonomie und Politik zu leben, sollen hier Alternativen zu einer einzigen gültigen Welt gedacht werden.

Zur Beantwortung der Frage "Wohin schreitet der Fortschritt?" erlaubt man sich ein Denken in Paralleluniversen: eine Denkgelenkigkeit, die sich nicht durch Gesetze des Faktischen und Moralischen reglementieren lässt: Auch Fiktion ist also Option. So spinnt Marko Tadiæ eine Welt mit zwei Monden, deren kollektives Bildarchiv er fälscht: Ein poetischer Kosmos mit der Frage "Gibt es viele Himmel über dem Mond?"

Wie weit lassen sich aber selbst in der Fantasie die Grenzen überschreiten? Und welche neuen Chancen schlummern dort tatsächlich? Das von WHW angeregte Mind-Stretching ist wohltuend, krankt aber da und dort am Pathos der Arbeiten - und auch am verschwörerischen Charakter des Kellers, in dessen muffiges Gewölbe sich die Ausstellung ausgebreitet hat. Mit den White-Cube-Räumen der Galerie Zimmermann Kratochwill allein war kein Auslangen zu finden.

Unterirdisch beispielsweise eine kleine Spieluhr. Dreht man an ihrer Kurbel, ertönt die sozialistische Internationale (Nemanja Cvijanoviæ). So wird das brachliegende Potenzial der Sozialrevolution kaum hörbar in Gang gebracht, über mehrere Stationen von Mikrofonen und Lautsprechern zwar verstärkt, gleichzeitig aber durch ebenfalls aufgefangenen Lärm in ihrer Aussage getrübt. Ein allzu simples Bild. Auch die in nukleares Schwarz-Gelb getauchten Monster, endzeitliche Hybride aus Tier und Maschine (Mona Marzouk), machen keine Türen auf, sondern zu. Wenn schon düstere Szenarien, dann doch lieber die in mehreren Medien erzählte Utopie von Lala Ra˚èiæ: Ein Hörspiel, das 2000 in Bosnien eine ähnliche Panik auslöste wie einst H. G. Wells' Der Krieg der Welten, inspirierte sie zu einer Flutkatastrophen-Science-Fiction. Kraft entwickeln auch die Oral Histories von Migranten, die auf Landkarten ihre Fluchtrouten nachzeichnen (Bouchra Khalili).

Einen kraftvollen symbolischen Raum einer zweiten Welt spannt das Projekt DAAR auf, das sich mit den Grenzen im Westjordanland beschäftigt, den Trennstreifen zwischen den Gebieten. Auf der Karte nur dünne Linien, aber im realen Raum fünf Meter breit, denken die Künstler über die Macht dieses extraterritorialen Raumes nach: ein Denkraum, wo man über das Ende von zwei Welten im Nahostkonflikt nachsinnen könnte.

Anne Katrin Feßler
wukonig.com