Falter - 21.09.2011

Bedrohliche Welten

Beim steirischen herbst kriegt man es dieses Jahr mit der Angst zu tun



Der steirische herbst hat sich dieses Jahr dem Leitmotiv "Zweite Welten„ verschrieben. Dafür thematisiert das Festival für neue Kunst Parallelwelten aller Art, die mitunter auch bedrohlich sind. Die Intendantin des steirischen herbst, Veronica Kaup-Hasler, wird diesen Freitag das Festival (23.9.-16.10.) in der Helmut-List-Halle eröffnen. Der Falter hat sich zuvor auf die Suche nach der dunklen Seite des diesjährigen herbst begeben, die sich in den hier vorgestellten Theater-, Musik- und Kunstveranstaltungen offenbart.

   Die dunkle Seite des Fortschritts

   Gelernt hat Eric Joris Filmemacher, gearbeitet hat er dann als Comiczeichner. Bis sich mit dem Aufkommen des Internets, mit interaktiven Arbeiten und dem Versuch, den Akt des Zeichnens in eine theatralische Performance zu verwandeln, seine Kunst grundlegend veränderte. Die Arbeiten, die Joris heute mit seinem Partner Stef De Pape und ihrer Gruppe Crew umsetzt, sind von der Faszination zukunftsträchtiger Technologien geprägt. Und vom leisen Schrecken, der stets ein Begleiter jeder Reise in unentdeckte Gefilde ist. "Der Faszination am Fortschritt wohnt auch immer dessen dunkle Seite inne„, so Joris, der zur Illustration Walter Benjamins berühmten "Engel der Geschichte„ zitiert, dessen Gesicht, vor Schrecken erstarrt, auf die Vergangenheit schaut, während ihn der Sturm des Fortschritts fortträgt - zu neuem Grauen.

   Die Tragödie aus der Vergangenheit, die bei "Terra Nova„, der für den steirischen herbst und mehrere andere Festivals entwickelten Crew-Produktion, zitiert wird, hat ganz unmittelbar mit dem Entdecken neuer, bedrohlicher Welten zu tun. Die Besucher tauchen ein in die Schrecken des Eises und der Finsternis, die den Forscher Robert Scott auf seinem tragischen Wettlauf zum Südpol begleitet haben. "Scotts Reise begann in Wirklichkeit erst, als er sah, dass er verloren hatte - und zwar beides: den Wettlauf und die Hoffnung zu überleben.„

   In "Terra Nova„ werden verschiedene Wege angeboten, der Erzählung zu folgen. Mit eigens entwickelten Videobrillen kann man im Geschehen verschwinden, scheinbar souverän und doch ferngesteuert. Zugleich werden die Videobrillen-Akteure zu "Handlungsträgern„ im wahrsten Sinne des Wortes: Der Film, durch den sie steuern, ist auf jeweils am Rücken angebrachten Monitoren zu verfolgen. Der Zuschauer wird zum Verfolger wie zum Verfolgten einer Handlung, die nur lebt, wenn er sich auf das Crew-Spiel mit der Illusion einlässt. Es geht darum, so Joris, in die Geschichte einzudringen, mit einem Fuß in der Realität, mit dem anderen in der Fiktion: "Wenn du dich nicht bewegst, wenn du dir nicht selbst eine Komposition im Kopf zusammenstellst, dann ist da auch nichts.„ Nur wer mitspielt, wird die Bedrohung des Ungewissen überwinden und die Tür zu einer neuen theatralen Kunsterfahrung öffnen.

   Schatten der Vergangenheit

   Seit einigen Jahren geht in der britischen Musikpresse ein Gespenst um. Vornehmlich im The Wire wird gerne über ein musikalisches Phänomen diskutiert, das sich Hauntology nennt. Dabei bezogen sich Theoretiker ursprünglich auf Jacques Derrida, auf die Annahme, dass unsere Gegenwart von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht wird. Allerdings kann man weniger ein Genre mit klaren Grenzen ausmachen als vielmehr den Versuch, die Vergangenheit in die Gegenwart einzuschleusen, ohne dabei in die Nostalgiefalle zu tappen. Eine zentrale Rolle spielt das britische Label Ghost Box, die Musik bewegt sich zumeist zwischen Düster-Elektronik und Dub Noir, gearbeitet wird mit Vintage-Sounds, und sampletechnisch ist kein verschollen geglaubter Film- oder Fernsehsoundtrack zu jenseitig.

   Unter dem Titel "Hauntings„ nähert sich der steirische herbst dieser Thematik nicht nur mit einem Konzertprogramm, bei dem Acts wie Demdike Stare (GB) oder Dopplereffekt (USA/D) in der Generalmusikdirektion konzertieren, sondern auch mit einer Ausstellung im Kunstverein Medienturm. "Hauntings - Ghost Box Media„ stöbert, so der Untertitel, einer heimlichen und unheimlichen Präsenz in Medien, Kunst und Pop nach. Und das herbst-Kino zeigt "Hölle Hamburg„ (2008), einen Film von Peter Ott und Ted Gaier. Verantwortlich für das Programm sind die Wiener Kuratoren Thomas Edlinger und Christian Höller. Von einem "Liebäugeln mit retro-futuristischer Melancholie„ spricht Edlinger, wenn er Hauntology beschreibt, von "zerkratzten Erinnerungsspuren„ und einer "eiernden Nostalgie„.

   Eine Arbeit der Ausstellung im Kunstverein Medienturm stammt von der französischen Künstlerin Zineb Sedira. Die Fotoserie zeigt ein verlassenes Haus in Algier, in dem angeblich einst Folterungen stattgefunden haben. Das zeigt deutlich, wie bedrohlich das Anwesende des Abwesenden sein kann. Ein Raum widmet sich etwa paranormalen Tonbandstimmen, den finalen Akt setzt "Phantoms of Nabua„, ein Kurzfilm des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul: "Das nächtliche Setting des Films besteht aus einer Filmprojektion im Freien, einem fluoreszierenden Lichtmast sowie Jugendlichen, die mit einem brennenden Fußball spielen (...) Schließlich gerät die Leinwand in Brand, und man blickt frontal in das weiße Projektorlicht dahinter. White light, white heat.„

   Nationalismus und Korruption

   Auch die Rückkehr von kitschiger Nationalfolklore macht Angst. In "Public Folklore„ rückt der Grazer Kunstverein "lokale„ Arbeiten in einen größeren europäischen Kontext. Der Schweizer Christian Philipp Müller etwa hat sich für das Kulturfestival regionale10 im Bezirk Liezen mit Loden beschäftigt, ein Video des Österreichers Martin Krenn widmet sich dem Freilichtmuseum in Stübing.

   Als brisant erweisen sich vor allem Arbeiten aus dem benachbarten Osten - etwa eine fotografische Dokumentation zur Installation "Spiegel„ von Ilona Németh. Die Künstlerin aus der Slowakei hatte 2009 vor einem Denkmal des sogenannten Turul-Vogels im ungarischen Györ einen großen Spiegel aufgestellt, der dieses zentrale Symbol des Magyarentums Richtung Bahnhofsgebäude blicken ließ. "Ich wollte damit das Denken des späten 19. Jahrhunderts spiegeln. Mancherorts sind wir nun wieder am Stand dieser Zeit„, sagt die Künstlerin. 2010 feierte der autoritär regierende Konservative Viktor Orbán einen Erdrutschsieg, aber auch die rechtsextremistische Jobbik-Partei hat 47 Abgeordnete im ungarischen Parlament. Kurator Søren Grammel zeigt auch eine Diaserie, die einschlägige Entwicklungen in ganz Europa dokumentiert, ein Rundgang in Graz beschäftigt sich mit der Folkore der Steiermark.

   Unwohl wird dem Besucher auch bei der herbst-Schau von <rotor>, die sich mit Machtnetzwerken beschäftigt. "Als wir die Ausstellung konzipiert haben, war uns nicht klar, wie sehr unser Thema an Aktualität gewinnen würde„, erklärt Kurator Anton Lederer. Noch bevor Ernst Strassers fragwürdige Amtsauffassung von der Sunday Times entlarvt wurden, haben sich Libia Castro und Ólafur Ólafsson mit Lobbying in Brüssel beschäftigt und darüber ein Video gedreht. Aber auch Protest ist möglich, das illustriert die russische Künstlergruppe Wojna: Auf eine Petersburger Brücke, gegenüber der dortigen Zentrale des mächtigen russischen Geheimdiensts, haben die Künstler 2010 einen Riesenphallus gemalt.

Hermann Götz, Herwig G. Höller, Tiz Schaffer
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