fm4 online - 20.09.2011

steirischer herbst: Zweite Welten

Ein Festivalzentrum ist nicht genug. Der "steirische herbst 2011" schafft einen eigenen Mikrokosmus. Eine Vorschau auf drei Wochen Kunst in Graz.



Rote und blaue Leuchtzüge markieren den "herbst" wie schummrige und weniger schummrige Bars das Grazer Lendviertel. Doch nichts ist, wie es scheint: "Zweite Welten" erklärt der "steirische herbst 2011" zum Leitmotiv und passend dazu eröffnet das Festival für neue Kunst seinen eigenen Mikrokosmos. Mitten in die Stadt und bewusst in einen gentrifizierten Straßenabschnitt, setzt Intendantin Veronica Kaup-Hasler ganz viel Kunst. Bislang begnügte man sich mit einem Festivalzentrum, diesmal nimmt der "herbst" ein eigenes Distrikt ein.

Die immer schon Dagewesenen, Wirtshäuser, Hotels und Läden sind eingebunden. "Ich greife Sachen auf, die funktionieren, und verleihe ihnen einen großstädtischen Charakter", sagt Maruša Sagadin und lächelt amüsiert. Die Künstlerin hat die ausladend einladende Gestaltung des Festivaldistrikts übernommen. Unheimlich freundlich soll es werden - und wer draußen bleibt, ist eben nicht dabei. Das Angebot ist üppig.

Ausverkauft und damit geschlossen ist bereits die Eröffnung des "herbsts": TänzerInnen werden singen und SängerInnen choreographisch arbeiten, wenn "Cesena" uraufgeführt werden wird. Anne Teresa De Keersmaeker prägt den europäischen Tanz seit den achtziger Jahren maßgeblich. Für "Cesena" hat sie sich mit Björn Schmelzer und dessen Graindelavoix zusammengetan. Isorhythmische Strukturen, diese sehr mathematisch konstruierte Musik, hört man selten.

Keine Karten braucht man für die Eröffnungsparty und das Konzert der 25jährigen Mary Ocher am Eröffnungsfreitag. Ihre "War Songs" schrieb sie, als sie noch in Israel lebte und sich dem Militärdienst entzog. Als sie vier war, zerbrach die Sowjetunion und ihre Familie zog nach Tel Aviv. Aktuell lebt Ocher in Berlin, und zwar gut in einer "Blase abseits des Mainstreams", wo sie mit ihrer eigenwilligen, einprägsamen Stimme nicht einzig thematisch P. J. Harveys Töne anschlägt.
Unheimlicher Eröffnungsreigen

Im Stundentakt zieht es das Festivalvolk am ersten Samstag zur Bildenden Kunst: Vier Ausstellungen wollen besucht werden. Zurückkehren für den zweiten und ausgiebigen Blick wird man anderntags, etwa in den Grazer Kunstverein und in den Medienturm. Denn die Ankündigungen klingen vielversprechend. Im Grazer Kunstverein fragt "Public Folklore"", wie sich die in vielen europäischen Ländern zunehmende nationalistische Selbstkonstruktion auf politische Wertesysteme auswirkt. Von den Zöpfen Julija Tymoschenkos zum Aufsteirern-Auftrieb in der Grazer Innenstadt eine Woche vor dem "herbst" verflechten sich die Fragen, dass einem bange werden kann.

Wenn aber unheimlich, dann schon so richtig: Mit "Hauntings" kuratieren Thomas Edlinger und Christian Höller ein interdisziplinäres Gesamtpaket zur heimlichen Anwesenheit oder unheimlichen Abwesenheit in Medien, Kunst und Pop. Ausgangsüberlegung: Seit es Medien gibt, sagen manche ihnen einen Draht ins Jenseits nach. Die Kuratoren spüren dieses gespenstische Andere im Bild auf und widmen der "Hauntology" in der Musik ein eigenes Programm (6. - 8. Oktober)

Die Welt ist eine von vielen möglichen, die irgendwo herumgeistern. Wie aufregend und keineswegs abgehoben diese Einstellung ist, macht die diesjährige "herbst"-Ausstellung deutlich. Das kroatische KuratorInnenkollektiv "What, How & For Whom" sieht sich nach Parallelsystemen der Macht in Gesellschaft, Politik und Medien um.
Erste Festivalwoche: "Morgen schläft hier ein Anderer"

Nach den Begrüßungsküsschen am Eröffnungswochenende wird es in der ersten Woche intimer. Im Hotel im Festivaldistrikt beziehen KünstlerInnen das Zimmer 113. Ich will es ja nicht verschreien, aber wer hier eincheckt, wird noch bei den nächsten Hotelaufenthalten an Graz und den "steirischen herbst" denken. Hans Rosenström empfängt Gäste einzeln auf 113 und lässt sie in "Blindsight" mit einer Stimme alleine, die näher und näher kommt.

Anders Ann Liv Young. Zwar lädt die Performancekünstlerin, die mit ihrem Körpereinsatz ohne Genierer schon Kritiker in die Flucht geschlagen hat, auch zur Einzeleinheit in "Sherry's Room". Die halbe Stunde mit Ann Liv Young könnte jedoch zur Herausforderung werden.

Mittwochs und donnerstags warten KünstlerInnen bei den Minibar-Partys bei freiem Eintritt mit ihren Lieblingsbeschäftigungen auf. Sport schauen mit Maruša Sagadin oder Werwölfe erwecken mit Autor Jörg Albrecht, das klingt doch gemütlich.

Apropos Albrecht: Der Vorgänger der aktuellen Grazer Stadtschreiberin Barbi Markovic bleibt noch ein bisschen da. Doch bevor wir "Die Blauen Augen von Terence Hill" (Premiere: 7. Oktober) sehen, will Spielfeldforschung betrieben werden. Darunter versteht bzw. versteckt der "steirische herbst" Theorie. Dieses Mal allerdings vermutlich mit einem hohen Anteil an Show-Charakter. Schließlich zeichnet neben Dramaturg Florian Malzacher Hannah Hurtzig verantwortlich für die Konferenz mit dem Titel "Der Patient". Hurtzig hat mit ihrem "Schwarzmarkt" einen Hit gelandet. Nun versammelt sie u.a. Hermes Phettberg und die Grande Dame der Körperforschung, Barbara Duden, zur Diskussion.

Balsam für die Seele ist Sin Fang. Die Stimme des Isländers mit Geburtsnamen Sindri Már Sigfússon gehört auch zu Seabear, und solo führt der Mann in Videos Häkeldeckerl ihrer einzig wahren Verwendung zu. Spitzendeckerlawsome! Auch am Waves Festival. (Wien: 29. Oktober; steirischer herbst, Graz: 1. Oktober)
Ohne textile Handarbeiten sehens- und hörenswert: Ernesty International (30. September, freier Eintritt).
Drittes Wochenende: Welche Welt?

Mit Gerhild Steinbuch, Jörg Albrecht und Johannes Schrettle denken drei der spannenden deutschsprachigen TheatermacherInnen im Auftrag des "herbsts" über die Rolle des Autors im Theater nach. Wann das aufhöre, AutorInnen als jung zu bezeichnen, fragte Dramaturg Florian Malzacher bei der Vorstellung des Projekts. Denn die drei sind zwischen 28 und 31, von unerfahren kann aber keine Rede sein.

"Am Schönsten ist das, was bereits verschwunden ist", behauptet der Titel von Gerhild Steinbuchs Audiowalk und Performance. Ein Mann geht durch seine Stadt und schafft sie sich währenddessen neu. Wenn sich das eigene Leben der Kontrolle entziehe, dann wenigstens Stolz aus Verzweiflung.
"Wie wir es tun sollten" verrät oder vielmehr fragt sich Johannes Schrettle mit seinem Kollektiv "zweite liga für kunst und kultur": "Wir sollten uns darauf vorbereiten. Wie sollten arbeiten, essen und schlafen. Wir sollten nicht anfangen, paranoid zu werden, weil wir die ganze Zeit beobachtet werden."
"Die blauen Augen von Terence Hill" müssen es bei Jörg Albrecht mit dem Status Quo unserer westlichen Konsum-und-Krise-Gesellschaft aufnehmen. Die Antihelden der Kindheit sollen sozialverträglicher Unterversorgung und Überproduktion den Entwurf einer ganz anderen Welt entgegen halten.
Finales Spiel mit Zeit und Raum

Noch ein weiteres Stück in andere Welten driften CREW mit "Terra Nova" und die niederländische Theatermacherin Lotte van den Berg für "Les Spectateurs". In Kinshasa hat Van den Berg ihre Produktion entwickelt, teilnehmende Beobachtung könnte die Vorgangsweise treffen. In eine virtuelle Welt manövriert CREW die BesucherInnen mit Videobrillen und konfrontiert dann überraschend mit einer sehr poetischen Geschichte. Es geht gegen Südpol.

Wenn man schon mal da ist, kann man im Laden (Mariahilfer Straße) Souvenirs von Michikazu Matsune erstehen. Der in Wien lebende Japaner macht ein "Tourist Office" auf und führt neben exquisitem Merchandise auch an reale und imaginäre Plätze.

Licht, Sound und Raum verpacken Apparatjik für das letzte Wochenende des "steirischen herbst 2011". Es gebe kein Über-Apparatjik, sondern nur ein mit oder gegen Apparatjik, erklärt die Band, die doch näher vorgestellt werden will. Schließlich haben sich dafür Magne Furuholen, Guy Berryman und Jonas Bjerre zusammengetan. Zuordnen könnte man die Herren der Reihe nach a-ha, Coldplay und Mew. Für ihre Kunstband schlüpfen sie in Fantasieuniformen und bauen für ihre Österreich-Premiere einen leuchtenden Kubus. Ein Konzert allein wäre zu wenig.
Maria Motter
wukonig.com