Falter - 28.09.2011

Als Jesus Christus zum modernen Menschen wurde



"Gólgota Picnic" von Rodrigo Garçia ist diese Woche beim steirischen herbst zu sehen. Letzte Woche wurde es in Rotterdam aufgeführt

Es riecht nach Hamburgerbrötchen im Theatersaal der Schouwburg in Rotterdam, wo vergangene Woche beim Theaterfestival "De Internationale Keuze von de Rotterdamse Schouwburg" Rodrigo Garçias Stück "Gólgota Picnic" aufgeführt wurde. Gezeigt wurde es im Rahmen von Next Step, einem Netzwerk aus sieben europäischen Festivals, diese Woche ist beim steirischen herbst die deutschsprachige Erstaufführung zu sehen. Die Brötchen bedecken akribisch angeordnet den Boden - hellbraun, süßlich riechend, mit Sesam bestreut. Darauf aufgebaut, ganz hinten auf der rot ausgeleuchteten Bühne, ein Picknick-Platz mit Campingstühlen, karierten Decken und einer Box voll Obst und Gemüse. Eine weiße E-Gitarre, eine Handkamera auf einem Stativ und eine riesengroße Leinwand lassen ahnen, dass in der Inszenierung des argentinisch-spanischen Regisseurs Rodrigo Garçia nicht einfach nur gepicknickt wird.

Am Ende des Stücks wird die Bühne einem Schlachtfeld gleichen. Die Hamburgerbrote werden aufgeweicht den Boden wie Schlamm bedecken, mitten in diesem Schlachtfeld wird der italienisch-österreichische Pianist Marino Formenti nackt am schwarzen Flügel sitzen und die gesamte Klavierfassung von Joseph Haydns "Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" spielen. Es wird der totale Kontrast zur vorhergehenden Reizüberflutung sein. Ein "Sprung nach innen", wie dem Text des Dramas, er stammt von Garçia, zu entnehmen ist: "Springt in euch selbst hinein, erfreut auch am Fallen, lasst euch von niemandem stören. Die Einsamkeit ist das Einzige, was euch sicher ist." "Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" ist ein Musikstück, das niemals aufbraust, sondern durchwegs aus langsamen Sätzen besteht. Formenti schildert die Situation auf der Bühne. "Man ist ganz allein an einem Klavier, das plötzlich unheimlich winzig wirkt. Das macht die Sache noch einsamer." In "Gólgota Picnic" ist Haydns Klavierstück wie die Stille nach dem Schuss.

Der Text von Garçia ist poetisch, fast ein Gedicht. Er ist in Ich-Form geschrieben, aber dieses "Ich" existiert auf der Bühne nicht mehr. Ein jeder der fünf Darsteller wird zu diesem "Ich". Sie sprechen beiläufig, sie sprechen, während sie eigentlich mit ganz anderem beschäftigt sind, sich zum Beispiel Gemüse und Obst mit Gaffaband an den Kopf kleben, um dann wie die Menschenporträts aus Früchten von Arcimboldo auszusehen. Nur lächerlicher. Ein Salatkopf wird hier zu Haaren, ein Netz Mandarinen zum Vollbart. Parallel dazu kommt aus dem Ghettoblaster die "Matthäuspassion" von Bach. Der ständige Kontrast also - zwischen Bild, Ton und Text, zwischen Witz und Melancholie.

Es gibt keine Unterstreichung der Sprache durch das Spiel. Referenzen quer durch die Kunst- und Bibelgeschichte werden zwar mit Worten wie auch mit Videos hergestellt, trotzdem ist das Tun der Schauspieler wie ein Laufen gegen den Text. Was erzählt wird, ist die Geschichte einer modernen, allzu menschlich gewordenen Christus-Figur, die als "ureinsamer Mensch", so Formenti, am Ende übrigbleibt. "Das Stück ist aber alles andere als antichristlich oder eine Provokation. Es ist der Versuch, die Figur Jesus Christus zu röntgen. Auch eine freche Abrechnung, aber nicht mit ihm. Und letzten Endes ist es eine eigenwillige Liebeserklärung", sagt Formenti im Gespräch. Rodrigo Garçia gibt keine Interviews, an seiner statt erzählt Formenti von Jesus Christus, der im Laufe der christlichen Geschichte immer menschlicher wurden. "Christus ist in diesem Stück ganz menschlich. Es ist die direkte Fleischwerdung, die interessanterweise schon im Alten Testament prophezeit wurde." Was auf der Bühne betrieben wird, ist eine permanente Grenzüberschreitung, ein Spiel mit dem, was als eklig empfunden wird. Und es ist eine Abrechnung mit unserer Gesellschaft, schon zu Beginn heißt es: "Unordnung säen, kann ich nicht: Das habt ihr bereits getan. Die Erde mit Waffen bevölkern, kann ich nicht: Das habt ihr bereits getan. Ich kann euch weder lehren Städte noch ganze Völker auszulöschen, ich kann euch die Techniken für einen Holocaust nicht beibringen: Das habt ihr bereits getan."

Golgotha ist im Neuen Testament der Hügel, auf dem Jesus gekreuzigt wurde. In "Gólgota Picnic" wird auch gekreuzigt, einer der Darsteller in den Hamburger-Boden hinein "ans Kreuz geschlagen„. Im fleischfarbenen Ganzkörperanzug, der Jesu Körper mit seinen Stigmata zeigt, und einen Motorradhelm mit Dornenkranz am Kopf, tanzt die Schauspielerin Nuria Lloansi eine Art Kreuzigungstanz. Ein weißes Leintuch wird auf einen mit Farbe besprühten nackten Körper gelegt. Was zurückbleibt, ist der Abdruck eines blutenden Körpers.

Rodrigo Garçia spielt mit unserem Ekel, wenn er sich schlängelnde Regenwürmer zwischen Brothälften legen lässt und sie als eine Art Super-Big-Mac in Großaufnahme auf die Leinwand projiziert. Oder wenn Fleisch im Fleischwolf faschiert wird - auch das ist in Großaufnahme zu sehen, die Faschiergeräusche deutlich hörbar. Zum Schluss aber wird alles in der plötzlichen Stille verpuffen.

Am Anfang war kein Wort, am Anfang war ein Flügel. Das Klavierstück am Schluss ist das, worum es von Beginn an geht, meint Formenti. Kennengelernt haben sich Garçia und Formenti bei einem Festival in Italien. "Ich habe ihm von Haydns Klavierfassung erzählt, in die ich mich gerade verliebt hatte. Auch Rodrigos Liebe zu dieser Musik ist entflammt. So ist dieses Stück eigentlich entstanden, ausgehend von der Musik." Formenti bezeichnet Haydns Stück als "Einsamkeitsetüde". Und auch die Menschen auf der Bühne sind bis zum Schluss alle einsam. Obwohl sie die ganze Zeit über miteinander auf der Bühne stehen, herrscht ein Gefühl von Einsamkeit. Erst gegen Ende, kurz bevor Formenti auf die Bühne kommt, treten sie mehr als zuvor in Beziehung zueinander. Einige Darsteller legen ihre Genitalien frei und filmen gegenseitig ihre Geschlechtsteile. Ihre Körper sind in- und aufeinander, in ständiger Umarmung und Umwindung, kopfüber, im Liegen und im Stehen werden sie mit roter und blauer Farbe bespritzt.

"Gólgota Picnic" ist ein Stück, das auch überfordert. Nur plötzlich am Ende, da wird es ganz still. Ein schwarzer Flügel wird durch den Brötchen-Matsch in die Bühnenmitte geschoben. Marino Formenti entledigt sich nach und nach seiner McDonald‚s-Arbeitskleidung. Es wird dunkler, alles konzentriert sich auf den nackten Pianisten, der sanft - manchmal fast zaghaft - die Haydn-Komposition in voller Länge spielt. Es ist zu spüren, wie schwierig es für das Publikum ist, mit der plötzlichen Ruhe umzugehen, mit einer Musik, die laut Formenti "die untheatralischste ist, die es gibt. Ein nackter Typ, der eine Stunde lang am Klavier Haydn spielt, nach der Bilderflut zuvor, das ist ein starker Widerspruch." Aber es ist ein treffender Widerspruch und gleichzeitig "der verborgene Kern der Arbeit", der einen hier nach zweieinhalb Stunden zwischen all den Hamburgerbrötchen plötzlich furchtbar traurig und alleine zurücklässt.

"Gólgota Picnic", Orpheum, Fr bis So 19.30

Sara Schausberger
wukonig.com