Die Presse - 25.09.2011

De Keersmaeker lässt in Graz die Truppen tanzen

Die belgische Starchoreografin Anne Teresa De Keersmaeker zeigt zur Eröffnung des Steirischen Herbsts ihre jüngste Arbeit >Cesena< und scheiterte daran, das Stück vom Hof des Papstpalasts in Avignon in die Grazer Helmut-List-Halle zu transferieren.



Das kennt man: Wenn man durch die Stadt geht, spät nachts, die Straßen sind fast menschenleer, nur ein paar trübe Lampen werfen von oben Licht auf den Gehsteig - und dann hört man hinter sich Schritte. Sie bedeuten nichts, ein anderer Passant, noch jemand, der rasch nach Hause möchte, aber man beginnt zu lauschen, ob sie schneller werden, diese Schritte, oder langsamer. Ob der andere im gleichen Rhythmus geht oder versetzt. Ob er in einen Hauseingang abbiegt, oder ob er bleibt.

Über 4000 Tote in Cesena. So beginnt Anne Teresa De Keersmaekers neues Stück "Cesena", mit dem am Freitag der Steirische Herbst eröffnet wurde. Im Fastdunkel erkennt man nur die Schemen der Tänzer. Erst ist es ein einzelner, der sich über die Bühne bewegt, dann kommt ein zweiter hinzu, man hört sie mehr, als dass man sie sieht. Die Geräusche, die man sonst in Tanzproduktionen beiläufig vernimmt - sie stehen hier plötzlich im Mittelpunkt.

Dann beginnt ein Hammer auf einen Amboss zu schlagen, zumindest klingt das so: Schwerter werden geschmiedet. Ab diesem Zeitpunkt treten die Tänzer in Reih und Glied, sie marschieren im Rhythmus, sie verstärken ihn: Es sind Truppen. Die Truppen tanzen bei Anne Teresa De Keersmaeker - und das ist wunderschön und bedrohlich, und man denkt sich schon, dass es doch geglückt sein könnte, dieses Experiment. Und ein Experiment ist es.

Denn Anne Teresa De Keersmaeker hat dieses Stück für einen ganz besonderen Ort entworfen, für den Hof des Papstpalastes in Avignon. Dieser Ort, darf man annehmen, hat auch das Thema vorgegeben - oder die Choreografin zumindest angeregt, sich mit diesem Thema zu beschäftigen: Hier residierte Clemens VII., ein mehr als ungeliebter Papst, der den Beinamen "Der Henker von Cesena" Zeit seines Lebens nicht mehr los wurde. Er hatte - da nannte er sich noch Robert von Genf - für seinen Vorgänger einen Aufstand in der oberitalienischen Stadt niedergeschlagen. Männer, Frauen, Greise, Kinder - über 4000 Menschen wurden in Cesena niedergemetzelt, soviel ist gesichert. Nicht gesichert sind die Geschichten, die sich rund um diese Bluttat ranken, von einer Soldateska, die eine Nonne erschlug und sich um die Leiche balgte - bis der Truppenführer einschritt und sie in zwei Teile hieb: Sollte der eine den oberen, der andere den unteren Teil bekommen.

Das ist also die Geschichte von Cesena, die dem Abend den Titel lieh. Diese Soldateska sehen und hören wir in der erste Viertelstunde.

Zehn Prozent Klarheit? Warum das Stück in der Grazer Helmut-List-Halle dann doch nicht funktioniert? Das liegt am Rahmen - und daran, dass bei aller Beteuerung, wie viele Geschichten der Körper zu erzählen vermag, wie viel Geschichte auch in ihm verborgen liegt, Anne Teresa De Keersmaeker keine politische Choreografin ist. Sie ist eine Ästhetin (das weiß auch der Steirische Herbst: Zehn Prozent Klarheit, zehn Prozent Schönheit, 80 Prozent Tanz verspricht das Programmheft). Sie weiß davon zu erzählen, wie der Körper sich seinen Raum erobert, davon, wie es möglich ist, dass das Individuum in der Gruppe doch Individuum bleibt - und sie weiß auf ein Setting wie das in Avignon zu reagieren: Vor Sonnenaufgang hat sie ihr Publikum in den Hof gebeten, und während das Ensemble tanzte und sang - die Tänzer stammen aus Keersmaekers Gruppe, die Sänger aus Björn Schmelzers Ensemble -, wurde es Tag. Es muss atemberaubend gewesen sein, mitzuerleben, wie, angespornt durch mittelalterliche Gesänge, die Sonne allmählich die Nacht vertreibt: die doppelte Nacht nämlich, die des menschlichen Geistes und die der Natur.

44 Stück Neonröhren. In der Helmut-List-Halle bleibt davon nicht viel über. Die Sonne: Das sind Neonröhren, 44 Stück alles in allem, und am Anfang brennt nur eine einzige. Was bedeutet: Bis zur Hälfte des Stückes bleiben die Tänzer ununterscheidbar, Schatten, die sich über die Bühne bewegen, einer wie der andere, eine wie die andere, dabei ist es doch gerade dieses Beharren auf der Individualität jedes einzelnen Tänzers, das De Keersmaekers Stücken jene elektrisierende Schönheit und Klarheit verleiht, von der das Programmheft des Steirischen Herbsts in seinen Prozentzahlen spricht.

Und wenn das Licht dann angeht? Dann sehen wir, wie eine Tänzerin zu Boden geht, wie sie vergeblich versucht, wieder auf die Beine zu kommen, wie sie umringt wird von anderen, die ihr zu helfen versuchen und scheitern. Wir sehen einen Tänzer im Kampf gegen die Schwerkraft, ein paar wunderbar tragische, berührende Momente also - aber alles in allem: eher beliebig.

Man hätte das Stück in Avignon lassen sollen.

Bettina Steiner
wukonig.com